Alle sind krank, oder über Hierarchien des Naserümpfens

  • Hallo zusammen, kürzlich habe ich die Behauptung einer Heilpraktikerin gelesen, dass die Ausübung der Hypnose, selbst wenn sie beispielsweise nur der Raucherentwöhnung diene, "medizinische, neurobiologische und psychologische Kenntnisse sowie therapeutische Erfahrung" voraussetze. Daher könnten nur Ärzte, Psychologen und Heilpraktiker die Hypnose sachgemäß einsetzen. In der Sache halte diese Position für abstrus und habe mich bereits in der Vergangenheit zu ihr geäußert, weshalb ich hier nicht näher auf sie eingehen werde. (Siehe bei Interesse: https:// hypnoseinfos.wordpress.com/2015/07/27/wer-soll-hypnotisieren-ein-paar-anmerkungen-zu-einem-blog-artikel/ Leerzeichen bitte bei allen Links entfernen) Das Witzige daran ist nun, dass die Heilpraktikern sich auf einen Psychologie-Professor beruft, für den sie höchstwahrscheinlich selbst nur ein "Laie mit Heilberechtigung" wäre; denn besagter Professor hält nur Ärzte, Zahnärzte und Psychologen für kompetent genug, um hypnotisieren zu können. Diese "hierarchische Schichtung" ist doch irgendwie amüsant: Wer von denjenigen, die "höher" stehen als er selbst, verachtet wird, der/die kann immer noch auf denjenigen einen Tritt verpassen, die (vermeintlich) "unter" ihm/ihr sind. Besagter Professor aber hatte bei seiner Ablehnung der Laien nicht allein mit angeblichen Gefahren der Hypnose argumentiert, sondern auch behauptet, dass beispielsweise hinter Übergewicht und Nikotinabusus "oft" tieferliegende Probleme stünden, die der professionellen Bearbeitung (Erkennung und Behandlung) bedürften. Ich finde diese Argumentation sehr interessant. Bedenken wir in diesem Zusammenhang einmal, dass 12-Monats-Prävalenz (psychiatrischer Störungen nach Erhebungen derzeit bereits bei fast 40%. Das heißt im Klartext, dass 40% der Menschen innerhalb des letzten Jahres mindestens einmal, häufig aber mehrfach oder durchgehend "psychiatrisch krank" waren. Das ist aber nicht alles, denn bestimmte Probleme werden gar nicht erfasst - es wird geschätzt, dass ansonsten 42- 45% der Leute als "psychisch gestört" gelten würden. [url]http://www[/url]. heise.de/tp/artikel/38/38115/1.html Diese Entwicklung sieht keineswegs jeder positiv. Der britische Psychiatrie-Professor Sami Timimi (S.197) etwa schreibt: [quote]Als Folge der Popularisierung der DSM-ICD-Diagnosesysteme wird heute allgemein behauptet, dass ein beträchtlicher Anteil der Bevölkerung an psychischen Störungen leide, was zu einer beträchtlichen wirtschaftlichen Belastung führt, und dass sich daraus die Notwendigkeit der Investition in verbesserte Erkennungs- und Behandlungsprozeduren dieser Störungen ergäben. In verschiedenen Studien in industrialisierten Nationen waren allerdings nur ein Drittel der (nach DSM-/ICD-Kriterien) als psychisch Gestörte diagnostizierten Personen an professioneller Hilfe interessiert bzw. nahmen diese in Anspruch...Zahlreiche Kampagnen wurden geführt, um Diagnose- und Behandlungszahlen zu erhöhen. In Großbritannien zum Beispiel führten das Royal College of Psychiatrists und das Royal College of General Practitioners in den frühen neunziger Jahren die Aktion »Defeat Depression« durch (Paykel u. Priest, 1992), die beabsichtigte, die öffentliche Wahrnehmung von Depression zu stärken, Stigmatisierung zu verringern, Allgemeinärzte in der Erkennung und Behandlung von Depressionen zu schulen und den Zugang zu Beratung und Unterstützung durch Spezialisten zu erleichtern. Unglücklicherweise zeigte die Evaluation der Behandlungs- und Aufklärungsrichtlinien, die aus der Kampagne hervorgegangen waren, nicht die gewünschten signifikanten Verbesserungen..., dafür aber andere Effekte wie ein schneller Anstieg von Verschreibungen von Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (»Antidepressiva«) und verstärkte vorschnelle Medikamentierung von unglücklichen und belasteten Personen. Wie erwähnt, fördert die medikamentengestützte Behandlung psychischer Belastungen im Sinne einer »Krankheit wie andere Krankheiten auch« Stigmatisierung, anstatt sie abzubauen. Anders als in anderen Bereichen des Gesundheitssystems ist es um die psychische Gesundheit in den Ländern am schlechtesten bestellt, die die aufwendigsten Fürsorgesysteme haben. Erst in den letzten Jahren sind in diesen Gesellschaften »Epidemien« psychiatrischer Diagnosen (z.B. ADHS, Autismus, Depression, bipolare Störungen) aufgetreten und bekannt geworden. Während es dafür komplexe politische, gesellschaftliche und kulturelle Gründe gibt, basieren sie teilweise auf neuen Vorstellungen von Persönlichkeit, Menschsein, dem Ursprung psychischer Belastung etc. und sind somit zumindest auch das Ergebnis der Schaffung, Verbreitung und der Akzeptanz psychiatrischer Diagnosen. [/quote][url]http://www[/url]. systemagazin.de/bibliothek/texte/Timimi-No-More-Psychiatric-Labels.pdf
  • Da die Software keine längeren Beiträge akzeptiert, habe ich den Text aufgeteilt, hier kommt der zweite Teil: Zudem scheint es, wie Timimi erwähnt, ungünstige Folgen zu haben, wenn psychische Probleme als "Krankheiten" taxiert werden, da dies zu einer vermehrten Stigmatisierung, aber auch zu einer Selbst-Stigmatisierung führt. Auch spricht offenbar vieles gegen die "Validität" psychiatrischer Diagnosen: Das heißt, dass solche Diagnosen keine "natürlichen Phänomene" erfassen, sondern mehr oder weniger willkürlich einfach bestimmte Symptome unter einem Namen zusammenfassen. Daher haben auch viele Psychiatrie-Patienten wechselnde oder gleich mehrere Diagnosen. Die renommierte [i]British Psychological Society[/i] etwa steht aus diesen und anderen Gründen dem ganzen Konzept psychiatrischer Diagnosen sehr kritisch gegenüber. Im Übrigen scheinen solche Diagnosen auch nur einen geringen oder überhaupt keinen therapeutischen Nutzen mit sich zu bringen. Die Behauptung, dass nur derjenige bei einem psychologischen Problem effektiv helfen könne, der ihm eine diagnostische Kategorie zuordnen kann, muss somit als sehr fragwürdig betrachtet werden. Wie gesagt wird bereits jetzt die Prävalenz "psychischer Störungen" auf bis zu 45% geschätzt, und ob das gute Folgen hat, ist fraglich. Wenn nun aber selbst noch Übergewicht oder andere "Alltagsprobleme" als Ausdruck einer dahinterstehenden Psychopathologie gedeutet werden würden, und das auch noch "oft", dann dürften die psychisch Gesunden wohl bald eine Minderheit sein. Anstatt die Pathologisierung normaler menschlicher Probleme voranzutreiben, wäre zu überlegen, ob man nicht vielleicht damit aufhören sollte, "normale" psychologische oder Lebens-Schwierigkeiten als "Erkrankungen" zu definieren. Zudem wird zwar häufig behauptet, dass die Ausübung der Psychotherapie einer besonderen Qualifikation bedürfe - siehe etwa die Äußerungen jenes erwähnten Psychologie-Professors. Überzeugend bewiesen worden ist diese These jedoch noch nicht. In umfassenden Meta-Analysen kamen etwa Gunzelmann und Kollegen zum Befund, dass "Laientherapie" hocheffektiv ist. Typischerweise erzielten die Laien über ein weites Spektrum von Problemen sogar besser Ergebnisse als die Professionellen. Diese Ergebnisse sollten zwar nicht überbewertet werden (siehe den ersten oben verlinkten Artikel), und es soll damit auch nicht behauptet werden, dass "professionelle" Therapeuten nun einfach überflüssig wären. Andererseits sprechen diese Ergebnisse zweifellos gegen die Tendenz, "Laien" als "unqualifiziert" oder "inkompetent" darzustellen. Andere Studien, Reviews und Meta-Analysen kommen gewöhnlich zu vergleichbaren Befunden. (Ebenfalls relevant ist die Tatsache, dass die Effektivität verschiedener Therapie-Methoden im Allgemein sehr ähnlich ist; das legt nahe, dass es eigentlich vor allem unspezifische Faktoren sind, die da wirken, und die auch einem Laien "verfügbar" sind.) (Vgl. Gunzelmann T., Schiepek G. & Reinecker H.(1987). "Laienhelfer in der psychosozialen Versorgung: Meta-Analyse zur differentiellen Effektivität von Laien und professionellen Helfern." [i]Gruppendynamik[/i], Vol. 18, pp. 361-384.) Insofern sind die Äußerungen jenes Psychologie-Professors, der Laien die Fähigkeit zur psychologischen Hilfe aberkennt, auch erstaunlich. Man stelle sich beispielsweise einmal vor, dass ein Psychiatrie-Professor behaupten würde, dass Psychologen zur Psychotherapie unqualifiziert seien, ohne dass er irgendwelche überzeugenden Belege für seine Behauptung vorlegen würde. Oder man stelle sich vor, dass seine Behauptung sogar im Widerspruch zur verfügbaren Forschung stünde. Würde man ein solches Verhalten nicht als unseriös begreifen? Ähnlich steht es um die Behauptung der entsprechenden Heilpraktikerin, obwohl man da vermutlich kein Wissen erwarten kann, das dem eines Psychologie-Professors gleichen würde. Erstaunlicherweise werden die Erkenntnisse der Psychotherapieforschung zur hohen Effektivität der Laien jedoch kaum beachtet. Dabei sind sie - auch wenn sie unvollkommen sein mögen -, doch eigentlich die beste Evidenz, die wir haben. Theoretische Spekulationen sind weit unsicherer: Will ich wissen, ob ich noch Brot im Kühlschrank habe, dann kann ich lange und vielleicht sogar halbwegs begründet spekulieren - besser ist es aber, wenn ich einfach nachschaue. Ähnlich kann man lange darüber spekulieren, ob "Laien" unqualifiziert zur Behandlung psychischer Probleme sind; diese Frage jedoch einfach konkret auszutesten, bringt einen weiter als die Spekulationen. Es ist daher seltsam, dass die relevanten Ergebnisse so wenig bekannt sind. Das mag teilweise an Eigeninteressen liegen, aber es müsste doch eigentlich auch unabhängige Personen oder Institutionen (Journalisten, Gesundheitspolitiker usw.) geben die zumindest ein gewisses Maß an Neutralität haben könnten. Das gesamte "typische" psychiatrische Modell - psychische Probleme sind "Erkrankungen" (des Gehirns), die allein von Spezialisten behandelt werden können - scheint empirisch nicht überzeugend begründbar zu sein. Vielleicht sollte man es tatsächlich einmal grundsätzlich hinterfragen. Und vielleicht ist es ja grundsätzlich verfehlt, psychische Probleme und ihre Behandlung in einer "technischen" Weise zu verstehen. Und wenn man schon von "psychiatrischen Störungen" sprechen möchte (obwohl das vermutlich mehr Schaden als Nutzen bringt), so sollte man dieses Konzept womöglich auf besonders schwere Probleme beschränken, anstatt nun auch noch Rauchen oder Übergewicht zu "psychiatrisieren". Letzteres mag zwar im Interesse bestimmter Berufsgruppen liegen; ob es aber auch im Interesse der Betroffenen selbst liegt, ist keineswegs so sicher. Und ob eine gute wissenschaftliche Grundlage dafür existiert, dass der Psychologie-Professor den Heilpraktiker und der wiederum den Coach abwertet, ist ebenfalls zweifelhaft. Man kann ja gerne anerkennen und respektieren, dass bestimmte Personen ganz besondere kompetenzen besitzen mögen – aber dazu muss man ja andere Leute nicht ohne Argument delegitimieren. Ich gebe zu, dass ich selbst bei diesem Thema früher in manchen Fragen deutlich unkritischer war, vor allem beim psychiatrischen Krankheitsbegriff. Aber im Lauf der Zeit habe ich erkannt, dass es eben durchaus gute kritische Argumente gibt, die einen dazu bringen können, manche Dinge zu hinterfragen. Um dies klarzustellen: Ich habe nichts dagegen, dass Menschen mit psychologischen Problemen Hilfe bekommen, auch professionelle und von den Krankenkassen bezahlte. Und ich meine auch nicht, dass diese Hilfe nur dort gewährt werden sollte, wo es um besonders "schwere" Probleme geht. Mir geht es eher um Folgendes: - Wenn es nicht nutzt oder sogar schadet, bestimmte Schwierigkeiten als "Krankheiten" zu verstehen und zu bezeichnen, sondern eher vielleicht sogar schadet, dann besteht aus meiner Sicht auch keine Notwendigkeit dazu. - Es sollte nur dort von bestimmten psychologischen Problemen behauptet werden, dass allein die Angehörigen ganz bestimmte Berufsgruppen in der Lage seien, bei ihnen sinnvoll zu helfen, wo dies zumindest plausibel ist (plausibel natürlich aus der Sicht von jemandem, der die relevante Psychotherapieforschung gut kennt). Existiert hingegen kein vernünftiger Grund für eine solche Behauptung, oder ist sie nach Studienlage sogar falsch, dann sollte eine entsprechende Behauptung auch nicht aufgestellt werden. Derzeit gelten ja womöglich schon bis zu 45% der Menschen als psychisch krank, und irgendwann sind es dann vielleicht auch 50 oder 60%. Daraus schlusszufolgern, dass nur einige wenige Leute in der Lage wären, 45, 50 oder 60% der Menschen bei deren jeweiligen Problemen psychologisch zu unterstützen, würde die Grenzen des Vernünftigen wohl etwas strapazieren. (Falls tatsächlich richtig ist, dass psychiatrische Diagnosen invalide sind – also im Grunde nur eine mehr oder weniger Etikettierung von Symptomen – so gilt diese Kritik natürlich erst recht.)